Experte: Aktuelle Rüstungszahlen zeigen „keine gesteigerte Bedrohung durch Russland“

Die russischen Militärausgaben sind im Zusammenhang mit der Sicherheitslage des Landes und im Vergleich zu den US-Rüstungsausgaben unterdimensioniert. Das stellt der Abrüstungsexperte Otfried Nassauer im Interview fest. Er warnt vor einer erneuten Rüstungsspirale und fordert die Rückkehr zu Entspannungspolitik und Vertrauensbildung.

Die weltweiten Militärausgaben sind wieder leicht gestiegen – auf 1,69 Billionen Dollar. Das meldete das schwedische Friedensforschungsinstitut Sipri am 24. April in seinem jährlichen Bericht über die Rüstungsausgaben. Spitzenreiter ist danach die USA mit 611 Milliarden Dollar vor China mit 215 Milliarden Dollar und Russland mit 69,2 Milliarden Dollar. Die Bundesrepublik wird mit 41,1 Milliarden Dollar auf Platz Neun ausgemacht.

Die Gesamtsumme von 1,69 Billionen Dollar sei eine „unvorstellbar große Menge“, kommentierte der Abrüstungsexperte Otfried Nassauer vom Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS) die Zahlen. Dem Sipri-Bericht zufolge geben allein die Nato-Länder die Hälfte des Geldes aus. Der Experte wies auf die „gewaltigen Unterschiede“ zwischen den Staaten auf den vorderen Ranglistenplätzen hin. Die Sipri-Zahlen würden auf Kontinuität bei den Rüstungsausgaben hindeuten. Eine genauere Analyse zeige aber, dass die rohstoffexportierenden Länder aufgrund gesunkener Preise für Öl und Erdgas ihre Militärausgaben deutlich senken mussten.

Russlands „nachholende Modernisierung“ führt zu höheren Ausgaben

Dagegen hätten westeuropäische Staaten ihre entsprechenden Ausgaben deutlich erhöht, mit anhaltendem Trend in den nächsten Jahren. Das werde mit einem „verstärkten Bedrohtheitsgefühl“ aufgrund der gestiegenen russischen Militärausgaben seit 2008 begründet. Der Westen spreche von der erneuten angeblichen russische Bedrohung  seit dem Krieg in Georgien 2008 und verstärkt seit dem Ukraine-Konflikt ab 2014. „In diesen Kontext werden Steigerungen der Militärausgaben Russlands hineinprojiziert.“

Diese seien aber „relativ gut zu erklären“, meinte Nassauer im Sputnik-Interview: 

„In den Jahren 1992 bis 2007 hat die russische Föderation für ihr Militär weniger ausgegeben als die Bundesrepublik Deutschland. Teilweise waren laut Sipri die russischen Ausgaben nur ein Drittel bis Hälfte von dem, was Deutschland ausgegeben hat. Diese Zahlen erklären sich aber auch leicht: Die Auflösung der Sowjetunion und die nachfolgenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten erklären, warum die russischen Verteidigungsausgaben erst 2008 die deutschen wieder überstiegen.“

Ab dem Zeitpunkt seien die russischen Streitkräfte modernisiert worden, „weil die Waffensysteme zum Teil veraltet und nicht mehr nutzbar waren“. Das gelte für die Atomwaffen, die für Russland wegen des strategischen Gleichgewichtes mit den USA wichtig seien, aber auch für die konventionelle Ausrüstung.

„Addiert man die Ausgaben sonstiger Verbündeter und Freunde wie Israel, Australien, Südkorea, Japan und einige andere hinzu, entfallen auf ‚den Westen‘ etwa drei Viertel der weltweiten Rüstungsausgaben.“

Das hatte der ehemalige Bundeswehr-Politikwissenschaftler August Pradetto in Heft 4/2017 der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ geschrieben. Nassauer meinte dazu, es ließe sich dagegen „theoretisch argumentieren, dass ein Land wie Russland es mit potenziellen Gegnern in Südasien als auch im Westen zu tun hätte und dazu noch das strategische Gleichgewicht mit den USA halten muss“. Insofern seien die russischen Verteidigungsausgaben trotz ihres hohen Anteils an der nationalen Wirtschaftsleistung „unterdimensioniert im Vergleich zu dem, was die USA ausgeben“.

„Ziemlich dumme Idee“: Asynchrone Rüstungsspirale

Der Abrüstungsexperte sagte, dass die Sipri-Zahlen nur wenig Auskunft darüber geben, was ein Land jeweils „für eine Milliarde Dollar im eigenen Land oder woanders dafür kaufen kann“. Der genaue Blick zeige, dass sich aus den Finanzzahlen „keine gesteigerte Bedrohung durch Russland ableiten“ lasse. Entsprechende Behauptungen von einer größeren Gefahr durch Moskau seien „im Wesentlichen politische und glaubensbasiert“. Russland sei aber an der Angst in seinen Nachbarländern „nicht ganz unschuldig“, meinte Nassauer, und verwies auf die Konflikte um und in Georgien und der Ukraine, ohne darauf einzugehen, wer diese tatsächlich ausgelöst hat.

Die vermeintliche Bedrohung aus dem Osten muss auch herhalten, wenn vor allem aus den USA und ihren Partnern von den Nato-Mitgliedern mehr Rüstungsausgaben bis zu zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) gefordert wird. Diese „unrealistische Forderung“ führt aus Nassauers Sicht „zu einer Situation, in der  sich die Militärausgaben in Russland und im Westen asynchron entwickeln“. Die Phase der gestiegenen russischen Militärausgaben seit 2008 gehe „offensichtlich wegen der geringeren Rohstoffeinnahmen im nächsten Jahr“ zu Ende. Das sei auch von Moskau bereits angekündigt worden.

Dagegen würden die westlichen Länder beginnen, ihre Militärausgaben wieder zu steigern. Das könne wiederum in mehreren Jahren zu entsprechenden Reaktionen in Russland führen, befürchtet der Experte eine erneute Rüstungsspirale – „eine ziemliche dumme Idee“. Notwendig finde er stattdessen, zwischen beiden Seiten durch vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen, zum Beispiel durch „gegenseitige Informationen über geplante Militärinvestitionen“, das Vertrauen wiederzubeleben.

Statt steigender Rüstungsausgaben wieder Vertrauen schaffen

Der Abrüstungsexperte stellte in Frage, „ob die im Westen nun geplante nachholende Modernisierung tatsächlich sinnvoll ist“. Dagegen wäre es sinnvoll, den Informationsaustausch zwischen Ost und West, „den es laut Wiener Dokument schon einmal gab“, wieder einzuführen. Nassauer empfahl, „sich an die Hochphasen des Kalten Krieges zu erinnern, und an jene Phase, in der die Bundesrepublik Deutschland mit der Entspannungspolitik einen Weg gefunden hat, Dialog und Einhegung von Konfrontation miteinander zu verknüpfen“. Das läge im gegenseitigen Interesse, sich damit „noch einmal intensiv zu beschäftigen und sich die Frage zu stellen, wie ähnlich das heute aussehen könnte“.

„Die gegenwärtige Eskalation auf beiden Seiten entspricht nicht dem Interesse, das diese Länder haben. Weder in Europa gibt es ein Land noch in Russland ist es so, dass irgendjemand tatsächlich einen Krieg wollen würde. Das kann doch keiner wollen! Also gilt es, hier Wege zu suchen, wie die Teufelskreise, in die man sich gerade hineinbegibt, aufgebrochen werden können.“