Experte: „Naher Osten muss wieder intelligent werden“ – Konflikte politisch lösen

Im Nahen Osten gibt es so viel Gewalt wie seit dem Einfall der Mongolen im 13. Jahrhundert nicht mehr. Das sagt der renommierte Orient-Wissenschaftler Udo Steinbach. Aus dem Chaos in der Region führt für ihn nur ein politischer Weg. Das gilt auch für Syrien, so der Experte. Aus seiner Sicht hat  Russland legitime Interessen in der Region.

Der Nahost-Experte und langjährige Leiter des Deutschen Orient-Institutes Udo Steinbach sprach am 19. April in Berlin in einer Veranstaltung des Verbandes für Internationale Politik und Völkerrecht (VIP) über die Lage in der Region. Diese sei von einem Chaos in Folge der 2010 ausgebrochen „dritten arabischen Revolte“ geprägt. Die habe in Tunesien begonnen und die politischen Verhältnisse in den Ländern der Region „fundamental erschüttert“.

Die Lage im Nahen Osten sei schwer zu durchschauen, weil sich die Konflikte in der Region beispiellos zuspitzen, hatte zu Beginn der Veranstaltung der frühere DDR-Diplomat Arne C. Seifert, VIP-Vorstandsmitglied, festgestellt. Die Ereignisse und ihre Folgen würden auf Europa zurückschlagen und die Medien hierzulande darüber nicht objektiv berichten. Nahostexperte Steinbach versuchte, den Zuhörenden einen klaren Blick zu ermöglichen durch eine Übersicht über die aktuelle Situation mit ihren „komplexen Konstellationen“ und die sie bestimmenden Faktoren.

Er sprach unter anderem von einem „Ende der orientalischen Frage“, die sich seit dem 18. Jahrhundert mit dem Osmanischen Reich gestellt habe. Seit damals sei die Lage im Nahen Osten durch unterschiedliche Interessen und Konstellationen, „die aus Europa kamen“, beeinflusst worden. Nach dem Zweiten Weltkrieg seien noch die USA als Akteur und der Ost-West-Konflikt hinzugekommen. Das ändere sich derzeit, meinte der Experte und stellte „ganz vorsichtig“ die These auf, „dass der Nahe Osten mehr oder minder sich selbst bestimmen wird“. Gegenwärtig zeige sich, dass die europäischen Mächte und die USA sich aus der Region zurückgezogen haben oder das vorbereiten. Das Fehlen einer Ordnungsmacht führe zu einem politischen Vakuum, dass die Regionalmächte wie die Türkei, Saudi-Arabien oder den Iran ausfüllen wollen, aber auch der Islamische Staat (IS).

Russland und Iran „entscheidende Faktoren“ für Lösung in Syrien

Der Kampf um die regionale Vorherrschaft werde vor allem in Syrien ausgetragen, sagte Steinbach. Er habe selbst gehofft, dass die von Tunesien ausgehende arabische Revolte zu einer Revolution in Damaskus führe. Doch die syrische Entwicklung habe einen ganz anderen Verlauf genommen als zum Beispiel in Ägypten, Tunesien oder Jemen. Die Führung in Damaskus unter Präsident Bashar al-Assad habe sich als hartnäckig erwiesen und die entscheidenden Machtmittel nicht aus der Hand verloren, stellte der Nahostexperte fest. Doch das Land sei in der Folge zu einem Schlachtfeld geworden, zu einem Platz, „in den zunehmend Kräfte von außen eindringen und ihre politischen Spielchen spielen“.

Steinbach gestand, dass er zu Beginn und bis 2013 für eine militärische Intervention des Westens war und bei dieser Haltung auch bleibe. Doch nachdem die USA unter Präsident Barack Obama im Sommer 2013 nach dem angeblichen Chemiewaffeneinsatz bei Damaskus nicht militärisch zuschlugen, sei das Land weiter zerfallen, auch entlang konfessioneller Linien. Inzwischen kann es aus Sicht des Wissenschaftlers keine militärische Lösung des Konfliktes in Syrien mehr geben. Vermutlich werde die Führung unter Assad politisch überleben, wofür die Befreiung Aleppos – für Steinbach eine „Eroberung“ – stehe. Für die notwendige politische Lösung und den Friedensprozess seien Russland und der Iran als Unterstützer von Damaskus der „entscheidende Faktor“. Die USA hätten sich allerdings mit dem Militärschlag vom 7. April auf eine syrische Luftwaffenbasis zurückgemeldet, um weiter eine Rolle bei der Suche nach einer Lösung zu spielen.

Der Experte betonte, dass die russischen Interessen in der nahöstlichen Region „in einer gewissen Weise legitim“ seien.

„Russland ist eine Nahost-Macht seit Katharina, der Großen, und Peter, dem Großen.“

Moskau auszuschließen sei ein Fehler, während die USA „nie eine Nahost-Macht gewesen“ seien und sich erst mit Ende des Zweiten Weltkrieges in die Region eingemischt hätten. Steinbach verwies auf die russischen Interessen in Bezug auf das Schwarze Meer, den Bosporus und die Dardanellen seit dem 18. Jahrhundert, ebenso wie auf den „Schutz der orthodoxen Christen in der gesamten Region“. Die Politik Moskaus sei darauf ausgerichtet, Russlands traditionelle Rolle im Nahen Osten und im eurasischen Raum wiederherzustellen

„Ideologie des IS hat nichts mit Islam zu tun“

Steinbach ging ebenso auf die Rolle Saudi-Arabiens und des Irans in den nahöstlichen Verhältnissen ein. Zwischen beiden gebe es einen Konkurrenzkampf um die regionale Vorherrschaft. Allerdings verhalte sich das saudische Regime in Riad dabei irrational und habe zu einem „Rundumschlag“ ausgeholt, unter anderem im Jemen, meinte der Experte. Das geschehe in Folge innenpolitischer Probleme und des Rückzuges der USA aus ihrer Rolle als Schutzmacht. Dagegen habe der Iran spätestens seit Ende der 1980er Jahre seine Sicherheitsinteressen in der Region „am rationalsten“ durchgesetzt. Die Politik Teherans sei darauf ausgerichtet gewesen, das von „zu vielen Gegnern“ umgebene Land sicherheitspolitisch abzusichern. Das sei gelungen, was unter anderem das Atomabkommen von 2015 belege. Der Iran werde „hartnäckig auf neue US-Sanktionen reagieren“, sagte der Experte für einen Kurswechsel Washingtons voraus.

In seinem Überblick über die Lage im Nahen Osten beschrieb er ebenso die Rolle und Interessen der Türkei sowie den IS als neuen Akteur im Chaos. Dieser müsse bekämpft werden – „da gibt es keine andere Lösung als eine militärische“, stellte Steinbach klar. Diese dschihadistischen Kräfte seien ab etwa 2013 in das Chaos in Folge des Zerfalls zentraler Macht und staatlicher Autorität im Irak und Syrien sowie im Jemen hineingestoßen. Aus Sicht des Experten handelt es sich bei dem IS um „mehr als eine religiöse Gruppe“, die „zum ersten Mal in der Geschichte des Islams aus Elementen der Religion eine Ideologie gemacht“ habe. Sie ziele auf Machtergreifung und des Machterhalts und sei von ihrem absoluten und universalen Anspruch sowie der Rede vom permanenten Kampf  her ähnlich dem Leninismus und dem deutschen Faschismus mit der Vision des „Tausendjährigen Reiches“.

„Mit dem Islam ist kein Staat zu machen“

„Sie hat mit der Religion gar nichts mehr zu tun“, betonte der Islamwissenschaftler. Er bezeichnete das vom IS ausgerufene und angestrebte Kalifat als „absurde Idee“ und als „Variante des Tausendjährigen Reiches“. Während dieses nach zwölf Jahren untergegangen sei, werde der IS dieses Schicksal schneller teilen, war sich Steinbach sicher. Allerdings habe die Idee des Kalifates, „die totale Umgestaltung der Welt im Namen Allahs“, eine erschreckende mobilisierende Wirkung bis nach Europa, besonders für junge Menschen.

Der Nahostexperte sieht die Zukunft  der Region in demokratischen Verhältnissen und in einem Föderalismus, der die Interessen ethnischer und religiöser Gruppen berücksichtige. Die jetzigen Staaten und Grenzen dürften aber nicht zerstört werden. Syrien oder den Irak aufzuteilen sei ebenso wenig nützlich wie ein eigenständiger kurdischer Staat. Steinbach spitzte außerdem zu:

„Der Nahe Osten muss wieder intelligent werden. Er ist geistig vollständig verrottet.“

Die „seltsame Islaminterpretation“ der islamistischen Kräfte sei „überhaupt nicht zukunftsfähig“. Nur wenn die Region säkularisiert werde, gebe es eine Chance: „Am Ende des Tages wird klar sein: Mit dem Islam, mit Religion ist kein Staat zu machen.“ Für den Experten ist das Modell des Irans ein Beispiel des Übergangs von einer islamischen zu einer politischen, säkular ausgerichteten Ordnung. Dagegen sei die Entwicklungen in der Türkei, wo unter Präsident Recep Tayyip Erdogan die Säkularisierung aufgegeben und die Rückkehr zum Islam durchgesetzt werde, „der Schritt in jenes Chaos, in dem sich die Welt des Nahen Ostens befindet“.