Fünf Fakten gegen das Selbstlob der Regierung im 5. Armuts- und Reichtumsbericht

Die Bundesregierung hat am 12. April den lange diskutierten 5. Armuts- und Reichtumsbericht verabschiedet. Der Bericht analysiert die Lebenslagen in Deutschland wie die Erwerbstätigkeit, die Einkommens- und Bildungssituation, die Gesundheit und das Wohnen. Deutliche Kritik äußern Sozialwissenschaftler und Sozialverbände.

Laut Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) belegt der neue Bericht „eine insgesamt positive Entwicklung der sozialen Lage in Deutschland“. Begründet wird das mit Folgendem:

„Ökonomische Stabilität und kontinuierliches Wirtschaftswachstum haben zur höchsten Beschäftigtenzahl und niedrigsten Arbeitslosigkeit seit der deutschen Einheit beigetragen. Seit Mitte des letzten Jahrzehnts hat sich die Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um ca. sechs Millionen Personen erhöht. In diesem Zeitraum hat sich die Zahl der Arbeitslosen in etwa halbiert, die Jugendarbeitslosigkeit ist um rund 60 Prozent zurückgegangen. Erstmals seit dem Jahr 1993 ist die Zahl der Langzeitarbeitslosen unter die Eine-Millionen-Marke gesunken.“

Das Volkseinkommen sei im Berichtszeitraum deutlich gestiegen, meldete die Ministerin am 12. April. Seit 2005 seien die Einkommen der Beschäftigten „stärker gestiegen als die Gewinneinkommen“. Auch die Reallöhne seien spürbar gestiegen, vor allem für gering Qualifizierte. Die bestehenden Ungleichheiten in Deutschland bei der Vermögensverteilung würden durch Steuern und Transfers erheblich abgemildert.

Laut Nahles ist der Anteil derjenigen, die wegen eines vergleichsweise niedrigen Einkommens als armutsgefährdet gelten, in den vergangenen Jahren etwa gleich geblieben „und hat sich zuletzt allenfalls leicht erhöht“. Immerhin gesteht die Ministerin ein, dass zu Beginn des letzten Jahrzehnts „die Einkommen allerdings noch deutlich gleichmäßiger verteilt als heute“ waren. Und: „Die Ungleichheit der Vermögen ist in Deutschland im internationalen Vergleich anhaltend hoch.“

Das Selbstlob der Bundesregierung für ihre Politik im Wahljahr stößt bei Sozialwissenschaftlern und Sozialverbänden auf Kritik. Davon haben wir die fünf deutlichsten Punkte zusammengetragen:

1. Zensur am Bericht

„Wieder wurden schon vor der endgültigen Ressortabstimmung zentrale Aussagen im ersten Entwurf des Berichts gestrichen, den das Arbeits- und Sozialministerium hatte erarbeiten lassen.“ Das stellte der Armutsforscher Christoph Butterwegge am 12. April auf „Zeit online“ fest. Das Bundeskanzleramt habe „gravierend“ in den Bericht eingegriffen und „gleich mehrere Kernpunkte“ im Ursprungsentwurf aus dem Bundesarbeits- und Sozialministerium gestrichen. So fehlten in der Endfassung Hinweise auf den Zusammenhang von sozialer Lage und dem Zustand der Demokratie. Das Unterkapitel „Einfluss von Interessensvertretungen und Lobbyarbeit“ des Entwurfes sei ebenfalls herausgenommen worden. Eine Passage sei umformuliert worden, die darauf aufmerksam macht, dass hohe Ungleichheit nicht nur den gesellschaftlichen Zusammenhalt beeinträchtigen, sondern auch das Wirtschaftswachstum dämpfen könne.

Auch der Paritätische Wohlfahrtsverband kritisierte die Streichungen im Bericht:

„Dazu zählten etwa Befunde zur politischen Partizipation von Menschen mit unterschiedlichen Einkommen, die zu dem Ergebnis kamen, dass sich die Politik überwiegend an den Interessen besonders vermögender Menschen ausrichtet und benachteiligte Personengruppen nur wenig Einfluss haben.“

Der Verband hatte bereits Anfang des Jahres kritisiert, dass die Perspektive der Betroffenen keinen Eingang in die Entwürfe des Berichts fand und die Dunkelziffer der Armut unerwähnt blieb.

Nahles hatte Anfang März in einer Veranstaltung der SPD-Bundestagsfraktion selbst beklagt, dass der 5. Armuts- und Reichtumsbericht schon Ende 2016 vorgelegt werden sollte. „Doch wir brauchen viel länger als geplant“, gestand sie ein, „weil wir nicht einig sind mit dem Kanzleramt“.

2. Selbstlob der Regierung

Armutsforscher Butterwegge stellte fest, dass der Bericht an zahlreichen Stellen behaupte, „die beschriebene Negativentwicklung habe sich zuletzt verlangsamt oder sei in jüngster Zeit sogar zum Stillstand gekommen“. „Als einzige Gründe dafür werden der robuste Arbeitsmarkt und der Rückgang der Arbeitslosigkeit seit 2005/06 genannt.“ Dagegen habe sich seit dieser Zeit „die Kluft zwischen Arm und Reich entscheidend“ vertieft. Die Gründe seien die Agenda 2010, Hartz IV und mehrere Steuerreformen, die Begüterte, Kapitaleigner und Spitzenverdiener bevorteilten.

„Der fünfte Armuts- und Reichtumsbericht gleicht angesichts dieser Tendenz zur sozialen Spaltung einer Beruhigungspille“, kritisierte der Sozialwissenschaftler.

„Denn die Bundesregierung nutzt ihn – wie sämtliche Berichte dieser Art – dazu, den Wählern ihre bisherige Politik als Erfolgsgeschichte zu verkaufen und Sand in die Augen zu streuen, statt ehrlich die vorhandenen Probleme aufzulisten.“

3. Kinderarmut in Deutschland kleingeredet

Die Nationale Armutskonferenz (NAK) kritisierte in einer Mitteilung, dass im nun offiziellen Regierungsbericht zu lesen sei, dass Kinder in Deutschland überwiegend in gesicherten Verhältnissen aufwüchsen. „Das ist irritierend, wenn man bedenkt, dass Kinderarmut in Deutschland auf hohem Niveau stagniert und jedes fünfte Kind arm oder armutsgefährdet ist“, erklärte NAK-Sprecherin Eschen. Sie erinnerte:

„Kinderarmut ist eine der größten Ungerechtigkeiten überhaupt. Armut bedeutet eine ganz bittere Ausgrenzungserfahrung für Kinder.“

Mit Kinderarmut beginne „ein wahrer Teufelskreis“, hatte Annett Mängel in Heft 2/2017 der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ hervorgehoben:

„Kinderarmut erhöht das Risiko von Einkommensarmut und damit auch von Altersarmut. Deshalb ist es besonders dringend geboten, hier wirksam gegenzusteuern. Inzwischen lebt fast jedes fünfte Kind in einkommensarmen Haushalten, jedes siebte Kind sogar von Hartz IV. Für Letztere stehen nach den jüngsten Erhöhungen zum Januar 2017 lediglich zwischen 237 und 311 Euro pro Monat zur Verfügung: für Essen, Bildung und Freizeit. Eine ausgewogene Ernährung und eine auch nur minimale gesellschaftliche Teilhabe sind davon kaum möglich.“

4. Gesundheitsfolgen der Armut werden ignoriert

„Kausale Schlussfolgerungen, wonach etwa ein geringes Einkommen zu einer schlechten Gesundheit führt, sind nur bedingt möglich“, heißt es im offiziellen Bericht der Bundesregierung. Sie beschreibt die Zusammenhänge nur in der Möglichkeitsform: „Die Frage der individuellen Gesundheit kann in einem Zusammenhang mit den materiellen Möglichkeiten des jeweiligen Haushalts stehen.“ Der Bericht verweist auf weitere Faktoren wie zum Beispiel den jeweiligen Bildungsgrad.

Dagegen hatten Sozialforscher unter anderem beim Kongress „Armut und Gesundheit“ am 16. und 17. März in Berlin festgestellt, dass die Lebenserwartung in Deutschland weiter deutlich vom sozialen Status abhänge. Wie sich Armut und soziale Ungleichheit auf die Gesundheit auswirken, das hatte das Berliner Robert-Koch-Institut (RKI) auf dem zweitätigen Kongress deutlich gemacht:

„Männer und Frauen mit einem Einkommen unterhalb der Armutsrisikogrenze haben im Vergleich zu den hohen Einkommensbeziehern eine um 11 bzw. 8 Jahre geringe mittlere Lebenserwartung bei Geburt.“

Zu den Ursachen dafür, dass Reiche länger leben als Arme, gehören laut RKI-Mitarbeiter Dr. Thomas Lampert unter anderem die Wohlstandsverteilung und die Unterschiede im Lebensstandard sowie die soziale Absicherung und die Lebensverhältnisse in Deutschland. Diese seien weiter auseinander gedriftet, erklärte er gegenüber Sputnik als Ursache dafür, warum die Unterschiede in der Lebenserwartung zugenommen haben.

5. Regierung ohne Konzept gegen Armut

Der neue Armuts- und Reichtumsbericht dokumentiere, „dass die soziale Ungleichheit in Deutschland wächst, ohne dass die Entscheidungsträger des Staates dies als Kardinalproblem der Gesellschaft wahrzunehmen oder zu bekämpfen bereit sind“. Das ist das Fazit von Armutsforscher Butterwegge. Der vorgelegte Bericht enttäusche trotz zahlloser Statistiken und informativer Schaubilder „all jene, die von ihm Handlungsempfehlungen für die Regierungsarbeit erwartet hatten“. Er biete „nur ein ‚Sammelsurium von Konjunktiven‘“, kritisierte der Paritätische Wohlfahrtsverband in einer Pressemitteilung.

„Der Umfang der sozialen Polarisierung steht in einem krassen Gegensatz zu den nun veröffentlichten Plänen und angekündigten Maßnahmen der Bundesregierung“, stellte Verbandsgeschäftsführer Ulrich Schneider fest. „Es wird nicht erkennbar, dass die Bundesregierung Armut entschieden bekämpfen will.“ Der Paritätische Wohlfahrtsverband fordere ein Gesamtkonzept gegen Armut und Ausgrenzung, für sozialen Zusammenhalt. „Die Bundesregierung ist aufgefordert, verbindliche Ziele und Maßnahmen zum Abbau von Armut und sozialer Ungleichheit zu formulieren. Stückwerkpolitik hilft nicht “, betonte Schneider. Zwingende Voraussetzung für eine effektive Armutsbekämpfung sei eine solidarische Steuerpolitik.

NAK-Sprecherin Eschen erklärte:

„Wir brauchen eine Aufwertung von Arbeit: Der Mindestlohn muss erhöht werden und für alle Arbeitnehmer gelten, bei öffentlichen Ausschreibungen sollte die tarifliche Bezahlung eine Rolle spielen.“

Sie forderte „eine einheitliche finanzielle Grundförderung für alle Kinder“ und: „Für in Armut lebende Kinder und Familien müssen zusätzliche Leistungen gewährt werden. Zudem benötigen wir auf kommunaler Ebene eine bessere Infrastruktur.“ Der Präsident des Sozialverbandes Deutschland (SoVD), Adolf Bauer, kommentierte: „Insbesondere gilt es, den sozialstaatlichen Konsens zu erneuern und die Privatisierung sozialer Risiken zu beenden.“