Rechtswissenschaftler Merkel: US-Bomben und Berlins Ja völkerrechtswidrig – „Tödliche Gefahr für die Welt“

Der Rechtsexperte Reinhard Merkel sagt: Es gibt keine völkerrechtliche Begründung für den US-Angriff auf Syrien am 7. April. Die Bundesregierung weiß das, so der emeritierte Professor im Gespräch. Der Strafrechtler und Rechtsphilosoph hat an der Universität Hamburg gelehrt und warnt vor den Folgen des Angriffes, der das Völkerrecht weiter zerstört.

Professor Merkel, die USA haben mit Marschflugkörpern Syrien angegriffen und das mit einem mutmaßlichen Chemiewaffeneinsatz am 4. April in Syrien bei Idlib begründet. Wie ist das aus Ihrer rechtlichen Sicht einzuschätzen?

Diese Begründung ist völkerrechtlich nicht haltbar. Was da geschehen ist, ist eine Art Strafaktion; und es wird in den Medien und von zuständigen Politikern ja nicht nur so genannt, sondern war auch in diesem Sinn intendiert. Militärische Aktionen zur Bestrafung eines anderen Staates sind unzulässig. Diese Aktion hätte vom Weltsicherheitsrat autorisiert werden müssen; und zum Zweck der schieren Bestrafung hätte sie übrigens auch von diesem nicht autorisiert werden dürfen. Natürlich muss man dann vorher auch wirklich sicher sein, wer diesen Chemiewaffeneinsatz zu verantworten hat – das ist ja nach wie vor nicht recht klar. In unseren Medien heißt es überall, die Experten seien sich einig, es sei das Assad-Regime gewesen. Aber aus der Sicht von Damaskus erscheint diese Aktion in einem solchen Maße abwegig, sinnlos, ja hochgradig verrückt, dass man sich schwer vorstellen kann, eine so unsinnige Aktion, die militärisch keinerlei Gewinn verspricht, die vielmehr die Empörung der Welt und das Risiko eines militärischen Gegenschlags auf den Plan rufen muss, könnte wirklich in Damaskus angeordnet worden sein. Aber wie dem immer sei, jedenfalls ist die unilaterale Reaktion mit militärischer Gewalt zu Zwecken der Bestrafung eines Staates unzulässig – da gibt es keinen Zweifel.

Etwas Anderes wäre der Fall, wenn man sagen würde: Es droht akut ein weiterer Chemiewaffeneinsatz von Seiten der syrischen Regierung. Und was wir jetzt machen, so könnte es aus amerikanischer Sicht dann heißen, ist eine militärische Aktion zur Prävention eines unmittelbar bevorstehenden völkerrechtlichen Verbrechens. Dann hätte der militärische Eingriff freilich eine ganz andere Dimension haben müssen. Dieser eine Schlag wird die syrische Armee weder substanziell schwächen, noch bedrohen, und hätte daher keine Präventionswirkung, sollte dort tatsächlich ein künftiger Giftgaseinsatz geplant worden sein. Deshalb kann der Schlag nicht sinnvoll als legitime Maßnahme zur Verhinderung weiterer völkerrechtlicher Verbrechen gedeutet werden, sondern nur als Bestrafungsaktion – und die ist einfach unzulässig.

Die deutsche Regierung hat diesem US-Schlag zugestimmt. Die Kanzlerin sagte, sie sei vorab informiert worden. Wie ist das einzuschätzen?

Man kann sich in dieser Situation von Seiten Berlins natürlich schlecht klar gegen die USA stellen. Politisch leuchtet mir das ein. Aber wenn Sie mal genau hinhören, was etwa Sigmar Gabriel als Außenminister und was auch die Kanzlerin selbst gesagt hat – nämlich, dass die Reaktion Washingtons unter den gegebenen Umstände ‚nachvollziehbar‘ sei −, dann hören sie vor dem angedeuteten politischen Hintergrund, dass man sich nicht offen gegen die USA stellen kann, in der vagen Formulierung ‚nachvollziehbar‘ einen ganz unmissverständlichen Tonfall der Verlegenheit. Man weiß in Berlin sehr genau, dass das völkerrechtlich unzulässig war.

Die Kanzlerin äußert sich rein politisch. Dazu kann man eigentlich nur mit den Schultern zucken und sagen: Mit Völkerrecht hat das nichts zu tun. Das sind eben politische Gesten, als solche verständlich, aber in der Sache dennoch nicht richtig. 

Müsste Berlin nicht eben, wie Sie argumentieren, aus Gründen des Völkerrechts „Nein“ zu solch einer Attacke sagen?

Ich rede jetzt einfach mal als zuständiger Rechtswissenschaftler: Ja, eigentlich müsste man das sagen. Die Kanzlerin hat gesagt, nun sei der Weltsicherheitsrat leider blockiert gewesen, dieses Geschehen in Syrien habe aber unbedingt einer starken Reaktion bedurft und wegen der Blockade des Rats durch das Veto Russlands habe man es eben auf diesem Weg machen müssen. So geht das aber nicht. Auf diese Weise erodieren die fundamentalen Prinzipien des Völkerrechts. Es ist ja in der Vergangenheit vielhundertfach erlebt worden, dass der Sicherheitsrat durch ein Veto blockiert wurde. Wenn es um andere Konflikte geht, blockieren ihn auch die USA. Und dass Russland, das ja Kriegspartei in Syrien ist, in dieser Sache ein Veto einlegen würde, war schlicht selbstverständlich – so wie die USA eines einlegen würde, sollten die von ihnen unterstützten, angeblich „gemäßigten Rebellen“ durch eine von Russland eingebrachte Resolution wegen Kriegsverbrechen verurteilt werden

Es ist ja tatsächlich noch nicht wirklich aufgeklärt, wer diese Geschichte zu verantworten hat – ob es das syrische Regime war oder ob, wie Russland erklärt hat, der Bombenangriff ein Chemielager der Rebellen getroffen hat oder ob es – und das halte ich für sehr gut möglich − ganz manifest die Rebellen selbst waren, die einen Luftangriff der syrischen Armee für dieses Verbrechen und zu dessen Deckung durch eine perfide Täuschung der Welt benutzt haben. Das wären ja nun ganz andere Sachverhalte als ein Luftangriff mit Chemiewaffen. All diese Dinge müssen zumindest halbwegs geklärt sein, bevor man sich zu militärischen Gegenaktionen entschließen darf.

Weitere US-Angriffe mit verheerender Wirkung

Trump produziert jetzt vor allem eine starke außenpolitische Geste, die ihm politisch nützen soll und vermutlich auch wird. Ich nehme an, hoffe sogar, dass er sich wenigstens vorher mit Moskau so verständigt hat, dass man die seitens Moskaus gerade noch tolerable Dimension dieses Militärschlags sozusagen in beiderseitigem Konsens festgelegt hat. Alles andere wäre das Anzeichen für den Beginn einer tödlichen Gefahr für die Welt.

Und wenn jetzt von Seiten der USA angedeutet wird, man könne sich weitere militärische Aktionen in Syrien vorstellen, um Assad abzusetzen, dann ist das in eben diesem Sinn allerdings eine verheerende Perspektive. Das kann und wird Moskau nicht dulden. Es ist auch völkerrechtlich unzulässig. Und es ignoriert, nebenbei, auch den langen konfliktreichen Hintergrund dieses fürchterlichen Geschehens in Syrien, an dem die Amerikaner − leider muss man das sagen − eine gravierende Mitschuld haben. Sie haben dort einen illegitimen Rebellenaufstand, einen Bürgerkrieg, jahrelang gefördert ‑ nicht nur einfach Rebellen, sondern dschihadistische Rebellen, obwohl man in Washington schon im Sommer 2012 gewusst hat, wo das hinführt. Es gibt ja inzwischen veröffentlichte Dokumente des amerikanischen Militärgeheimdienstes DIA, der dem Pentagon schon im Herbst 2012 klar gesagt hat: Die Vorgänge in Syrien nehmen eine eindeutig dschihadistische Richtung, es gebe keine relevanten moderaten Anti-Assad-Kräfte mehr. Wenn die USA jetzt auftreten als der große moralische Bereiniger dieses fürchterlichen Geschehens in Syrien, dann ist das – man kann es leider nicht anders sagen – nachgerade pharisäerhaft und ganz und gar unglaubwürdig.

Sie hatten im Jahr 2013 in einem Beitrag in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ unter anderem geschrieben, der Westen ist schuldig, in Syrien die „hässlichste, in jedem Belang verheerendste Form des Krieges entfesseln“ geholfen zu haben. Wie ist das in aktueller Sicht zu bewerten?

Das ist nach wie vor ungefähr so zu bewerten, wie ich das damals gesagt habe. Man hat sich im Westen weder die Frage gestellt, ob eigentlich der bewaffnete Bürgerkrieg in Syrien, also der bewaffnete Aufstand, legitimierbar ist, noch und schon gar nicht, ob man einen solchen Aufstand durch die eigene Unterstützung in einen blutigen Bürgerkrieg eskalieren lassen darf. Aber beides hat man getan, und beides war illegitim, wie schon der bewaffnete Aufstand in Syrien selbst. Er hat absehbar zu einem so furchtbaren Krieg geführt. Es geht ja – wiewohl das verheerend genug ist – nicht nur um die schon 500.000 Toten dort, sondern es geht um Generationen von Menschen in Syrien, die diese blutigen Geschehnisse noch in Jahrzehnten als unverheilte seelische Wunden spüren werden. Syrien wird, wenn irgendwann die Waffen schweigen, noch generationenlang nicht zur Ruhe kommen. Das ist entsetzlich. In diesem Sinne stehe ich zu meiner Analyse von 2013, die Sie erwähnen: Der Westen hat sich an diesem Grauen in einem hohen Maße mitschuldig gemacht. 

Es gibt das Rechtsstaatsprinzip „in dubio pro reo“ – im Zweifel für den Angeklagten. In Bezug auf das aktuelle Ereignis, warum wurde das beiseitegeschoben? Der Westen beruft sich ja immer auf seine Werte, auch auf den Wert des Rechtsstaates.  Zudem wird immer wieder von Beobachtern darauf hingewiesen, dass das militärische Eingreifen seitens Russlands seit 2015 zumindest auf völkerrechtlichen Grundlagen beruht, während zum Beispiel die westliche Koalition gegen den IS im Irak und in Syrien ohne völkerrechtliche Grundlage agiert. Wie ist beides zu bewerten?

Zunächst zu Ihrer ersten Frage: ‚In dubio pro reo‘ ist ein Grundsatz des Strafverfahrens – ein menschenrechtlicher Grundsatz und in Deutschland auch ein verfassungsrechtlicher. Er hat zu tun mit der in der Europäischen Menschenrechtskonvention garantierten Unschuldsvermutung. Aus ihr folgt der Grundsatz ‚in dubio pro reo‘. Er gilt aber nur im Strafrecht. Ihn unbesehen ins Völkerrecht zu übertragen hat keinen Sinn. Im Völkerrecht sind diese Dinge, also die Legitimationsvoraussetzungen für Gewaltanwendung, selbständig und eben für das Rechtsverhältnis zwischen Staaten geregelt, im Wesentlichen in der UN-Charta. Deren Artikel 39 ff. sagen: Der Sicherheitsrat ist für die Legitimation von Gewaltanwendung zuständig, und zwar mit einer exklusiven Zuständigkeit – er hat das globale Gewaltmonopol. Und dann regelt die Charta in ihrem Artikel 51 noch eine Art Notwehrrecht der Staaten: Wer militärisch angegriffen wird, darf sich natürlich auch ohne UN-Sicherheitsratsbeschluss militärisch verteidigen und man darf ihm dabei auch militärisch helfen. Aber dieser Artikel 51 spielt für die US-Aktion in Syrien ganz offenkundig keine Rolle. Die USA haben selbstverständlich auch nicht etwa geltend gemacht, dass die Rebellen dort einen Staat bilden würden – den IS etwa − der von Damaskus unrechtmäßig angegriffen worden sei und dem man beistehen wolle. Der Verweis auf Artikel 51 UN-Charta ist hier also kein zulässiges Argument. Übrig bleibt daher allein die alleinige Zuständigkeit des UN-Sicherheitsrates. Nur spielt das Prinzip ‚in dubio pro reo‘ in diesem ganzen Kontext tatsächlich keine Rolle.

Russischer Einsatz in Syrien völkerrechtlich legitimiert – Westen nicht

Die andere Frage zur Legitimität des russischen Einsatzes: Es ist so, dass Russland von der noch immer nach außen legitimen Regierung Syriens eingeladen, ja gebeten worden ist, dort militärisch zur Unterstützung der syrischen Regierung einzugreifen. Das ist eine völkerrechtlich anerkannte Legitimationsgrundlage. Nun kann man im Völkerrecht tatsächlich noch mehr als in allen anderen Rechtsgebieten anfangen, rabulistisch Haare zu spalten. Man könnte etwa sagen: Zwar darf man einem Regime, das im Kampf mit Rebellen steht, militärisch helfen, wenn man darum gebeten wird. Wenn aber dieses Regime substanzielle Völkerrechtsverbrechen begeht, dann darf man ihm trotzdem nicht beistehen. Viele sagen ja – und falsch ist das gewiss nicht –, dass vom syrischen Regime gravierende Völkerrechtsverbrechen begangen worden sind, wie naturgemäß von allen an diesem Konflikt in Syrien Beteiligten und in ihn Eingreifenden, die westliche Intervenienten eingeschlossen. Aber grundsätzlich gilt, dass die Bitte um militärische Hilfe an Moskau das Eingreifen der Russen legitimiert hat. Umgekehrt – und ich sage mit großem Bedauern, denn ich lebe in einem westlichen Staat und schätze dessen rechtsstaatliche Ordnung sehr – haben die militärischen Aktionen der USA und die der europäischen Mächte, Frankreichs etwa, aber auch die Unterstützung seitens der Bundesregierung, völkerrechtlich keine tragfähige Grundlage. Sie sind völkerrechtlich nicht legitim.

In der April-Ausgabe der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ gibt es einen Beitrag des ehemaligen Professors der Universität der Bundeswehr in Hamburg August Pradetto, der dem Westen vorwarf, mit der Politik des Interventionismus das Prinzip des Völkerrechtsbruchs in die internationale Politik eingeführt und durchgesetzt zu haben.

Herr Pradetto ist ein kompetenter Beurteiler dieser Dinge und er hat meines Erachtens leider Recht. Man führt die unilaterale Gewalterklärung und Gewaltausübung am Sicherheitsrat vorbei einfach ein. Der Sicherheitsrat hat die Intervention in Libyen vor fünf Jahren autorisiert, wiewohl ich meine, dass er damit eindeutig seine eigenen Grenzen überschritten hat. Aber die anschließende Intervention der Nato war wenigstens ein formell legaler (wenn auch materiell illegitimer) Militäreinsatz, weil eben eine Autorisierung durch den Sicherheitsrat da war. Im Irak 2013 war das aber nicht der Fall. Es war auch im Kosovo-Konflikt nicht der Fall. Und es ist auch für sämtliche militärischen Interventionen in Syrien nicht der Fall. Jedes Mal fehlte es an einem Beschluss des Sicherheitsrates. Was damit gemacht wird, ist dies: Man erklärt, wie das vor 100 Jahren noch selbstverständlich war, aber seit Gründung der Uno 1945 einfach nicht mehr sein darf, die einseitige Gewaltanwendung, vorbei am Sicherheitsrat, einfach wieder für ein probates Instrument der Außenpolitik, also im Sinne von Clausewitz‘ berühmtem Diktum zu deren „Verlängerung mit anderen Mitteln“. Damit unterminiert man fundamentale Normen des Völkerrechts. Das ist eine zutiefst bedauerliche Entwicklung.

Gibt es Chancen, diese Entwicklungen zu stoppen, oder müssen wir beobachten, wie das, was Sie eben kritisch bemerkt haben, weitergeht mit allen Folgen und Konsequenzen, die von verschiedenen Beobachtern zum Teil sehr drastisch dargestellt werden?

Für die politische Entwicklung bin ich nicht spezifisch zuständig. Ich habe zwar meine eigene Meinung dazu, aber das können kluge politische Kommentatoren besser als ich. Die Entwicklung einer völkerrechtlichen Erosion, wie ich das eben genannt habe, nämlich der Grundnormen, ja der Existenzbedingungen der globalen rechtlichen Ordnung, wäre eine höchst gefährliche Geschichte. Ich kann nur hoffen, dass das in dem nun begonnenen Modus nicht weitergeht. Man hat allerdings leider Anlass zur Skepsis, wenn man Präsident Trump anschaut. Die großen Mächte, vor allem die USA, haben natürlich immer wieder gezeigt, dass sie sich in Situationen einer behaupteten politischen Notwendigkeit nicht an die Fundamentalprinzipien des Völkerrechts gebunden fühlen. Dass aber diese Prinzipien selbst als unabdingbare Voraussetzungen jeder vernunftgemäßen Weltordnung weiter gelten werden, kann man sagen. Die Frage ist nur, welche praktische, welche tatsächliche Wirksamkeit sie in der großen internationalen Politik haben werden, wenn sie zunehmend gebrochen werden. Und davor darf man sich weiß Gott fürchten. Ich hoffe freilich, dass diese Entwicklung so nicht weitergehen wird.