Ex-Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) hat erneut festgestellt: „Ohne Russland oder gegen Russland werden wir keines der aktuellen Probleme lösen können.“ Der Dialog müsse auch „in eiskalten Zeiten“ fortgesetzt werden, sagte er am 20. März 2017 in Berlin auf der Festveranstaltung des Deutsch-Russischen Forums. Im Interview erklärt er seine Sicht.
Herr Platzeck, Sie haben heute als Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums gesagt, Sie hätten die Hoffnung, dass es 2017 zu einer Verbesserung im deutsch-russischen Verhältnis kommen könne. Wie schätzen Sie das Verhältnis ein und wo sehen Sie Zeichen der Hoffnung und Veränderung?
Wir haben heute in Berlin eine Festveranstaltung erlebt, die von einem ausgesprochen guten Geist beseelt war. Das ist für mich ein Indikator dafür, woraus wir Hoffnung schöpfen. Hier haben zwei Menschen geredet, die beiden Festredner: Fritz Pleitgen, der langjährige WDR-Intendant, langjähriger Russland-Korrespondent der ARD und diesjähriger Träger des Joseph-Haass-Preises, und der ehemalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber.
Was ist das Besondere daran? Zwei Dinge: Die Beiden kommen aus politisch völlig unterschiedlichen Lagern und haben sich früher politisch eher bekämpft. Der Eine war Chef des „roten WDR“ und der andere war Chef des „schwarzen Bayern“. Heute haben sie beiden zum Verhältnis Russland-Deutschland geredet und haben so viele Berührungspunkte, so viele Gemeinsamkeiten gehabt, dass sie selber beide verwundert waren. Kluge, ältere Männer mit viel Lebenserfahrung haben gesagt, dass es dringend nötig ist, Egon Bahr und Willy Brandt wiederaufleben zu lassen. Das sagt schon alles.
Und dass sie sich an dem Punkt getroffen haben, zeigt, dass es auch eine Stimmung gibt in der Gesellschaft in diesem Lande, die mir zumindest Anlass zur Hoffnung gibt.
Welche aktuellen positiven politischen Signale sehen Sie?
Wir haben in den letzten Wochen und Monaten eine Besuchsdichte verspüren können – Bundestagsabgeordnete, deutsche Ministerpräsidenten, auch Minister in Moskau –, die hatten wir jahrelang so nicht. Jetzt hat auch die Bundeskanzlerin – und das muss man sich genau vormerken – einen Besuch auf Einladung des russischen Präsidenten angekündigt: Zum ersten Mal seit Langem ein Treffen mit Putin ohne Anlass. Also kein Konflikt in der Ostukraine oder kein G20-Treffen, sondern ein fast normaler, soweit man davon sprechen kann, Besuch in Moskau. Das hat es nach meiner Kenntnis seit Jahren so nicht mehr gegeben.
Drittens kommt hinzu, dass der neue deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in dem, was er bisher gesagt hat, doch deutlich signalisiert hat, dass er diese lange besuchsfreie Zeit eines deutschen Bundespräsidenten in Moskau wahrscheinlich beenden wird. Das alles sind für mich positive Signale in diesen zugegebenermaßen schwierigen Zeiten, die zur Hoffnung Anlass geben.
Die Sanktionen gegen Russland werden immer wieder erneuert. Es gibt Hoffnungszeichen, aber es passiert nicht tatsächlich etwas. Wo sehen Sie konkreten Veränderungsbedarf?
Meine Meinung ist bekannt: Die Sanktionen waren erfolglos. Und wenn etwas erfolglos ist, muss man ganz nüchtern und sachlich fragen: Lohnt es sich, das fortzusetzen? Aber es muss immer ein gesamteuropäischer Beschluss gefasst werden. Und wenn wir davon ausgehen, dass politische Stimmungslagen das im Moment nicht hergeben, dann muss man sich an etwas erinnern, das auch aus der Zeit von Willy Brandt und Egon Bahr kommt.
Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber man kann aus ihr lernen. Als auch mit der DDR Verträge ausgehandelt wurden, die völkerrechtlich nicht anerkannt waren, hat man sich in der Kunst geübt, Probleme, die derzeit nicht lösbar waren, einfach mal zur Seite zu legen und sich den Problemkreisen zu widmen, wo man gemeinsam was machen, Kooperation entwickeln, Zusammenarbeit gestalten konnte.
Um es mal ganz plastisch und konkret zu machen: Die Europäische Union und Russland werden in der Frage der Krim nicht zu einer einheitlichen Sicht kommen. Also könnte man sich doch vorstellen – Lernen von Egon Bahr und Willy Brandt –, wir nehmen die Krim-Problematik in einen Karton und stellen den erstmal weg. Und auf den Karton kommen zwei Aufschriften. Europa schreibt: Erkennen wir niemals an. Russland schreibt: Geben niemals wieder her. Und dann widmet man sich zum Beispiel dem gemeinsamen Wirtschafts- und humanitären Raum von Wladiwostok bis Lissabon. Von den anderen Problemen lassen wir uns dabei nicht unbedingt blockieren oder bremsen. Mit so einer Denkweise könnte man auch andere Themen finden. Es gibt im Nahen und Mittleren Osten vieles gemeinsam zu regeln. Es gibt bei der Frage des Klimaschutzes Dinge, die dringend und nur gemeinsam gemacht werden können. Terrorismusbekämpfung… Zig Fragen, die wir nur gemeinsam lösen können.
Es gibt auch die geopolitische Herausforderung, dass Europa sehr aufpassen muss, dass es irgendwann nicht alleine steht. Es gibt isolationistische Tendenzen in den USA, es gibt das Kraftzentrum im Fernen Osten mit China. Und plötzlich stehen wir da. Da sollten wir ein großes Interesse haben, Russland näher an uns heranzuholen. Nicht dass wir Russland am Ende in zehn, zwanzig Jahren an China verlieren. Das sind Fragen, denen wir uns widmen sollten, statt die trennenden Probleme jeden Tag in den Vordergrund zu schieben.
1989/90 gab es im Osten wie im Westen große Hoffnungen, dass es bessere Beziehungen zueinander gibt. Es gab und gibt verschiedene Angebote der Zusammenarbeit aus Moskau. Trotzdem ist die Lage so, wie sie ist. Braucht es erst einen Regierungswechsel in Berlin, um Veränderungen herbeizuführen?
Ich wäre natürlich sehr für einen Regierungswechsel, gar keine Frage. Aber ich glaube, dass es eine andere Notwendigkeit gibt, die sich aus den Erfordernissen der Zeit ableiten lässt – egal, wer regiert. Man muss einfach erkennen, dass die Probleme um uns herum derzeit manifest größer werden. Die Lösungskompetenzen und Möglichkeiten wachsen da nicht mit. Und die Erkenntnis, die wir verinnerlichen müssen, ist: Ohne Russland oder gegen Russland werden wir all diese Themen nicht lösen können.
Also ist es zweitrangig, wer regiert. Ich würde mir immer wünschen, ein SPD-Bundeskanzler regiert. Aber erstrangig ist, dass diese Probleme nicht mehr fünf Jahre Aufschub vertragen. Wir sollen uns die Welt nicht schönreden: Die Entfremdung zwischen Deutschland und Russland wächst, die Kenntnisse übereinander nehmen ab. Das ist mit hohem Gefahrenpotential verbunden, weil alle Arten von Fehl- und Falschmeldungen dadurch viel schneller Raum gewinnen können und Eskalationsgefahren damit wachsen. Deshalb glaube ich: Wir haben überhaupt nicht mehr viel Zeit. Deshalb hoffe ich, dass diese Erkenntnis sich langsam durchsetzt. Ich weiß um die Gegenkräfte, die Ressentiments, die Widerstände, Stereotype und Narrative, aber solche Abende wie heute geben mir schon die Zuversicht, dass da noch was zu löten ist.
Unabhängig vom Ausgang der Wahl im September?
Ich bin mir sehr, sehr sicher, dass jede SPD-geführte Regierung dem Vermächtnis und den Erkenntnissen von Egon Bahr und Willy Brandt unendlich viel nähersteht als anders geführte Regierungen.