Ein möglicher Regierungswechsel nach der Bundestagswahl wird das Verhältnis zwischen Berlin und Moskau nicht verbessern. So schätzt es der Politologe und Russlandexperte Alexander Rahr ein. Er sieht keine Anzeichen für Verbesserungen und warnt vor einem gefährlichen neuen Kalten Krieg in Folge der fortgesetzten antirussischen Politik.
„Bedauerlicherweise ist das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland so schlecht wie seit Jahrzehnten nicht mehr“, beschrieb Rahr im Interview seine Sicht. „Ich finde sogar, schlechter als im Kalten Krieg“, ergänzte. Damals habe es „wenigstens eine Art Ostpolitik und gewisse Hoffnungen auf Verbesserungen“ gegeben – „wo es nach vorne ging und nicht zurück“.
Der Politologe hofft, „dass vielleicht die nächste oder die jetzt nach den Wahlen in Deutschland an die Macht kommende Generation einfach begreift, dass wir keine andere Wahl haben als mit Russland ein gemeinsames Europa zu kreieren.“ In einer Videobrücke Berlin-Moskau mit russischen und deutschen Politikwissenschaftlern am 20. März hatte sich Rahr allerdings skeptisch geäußert, ob sich nach der Bundestagswahl im September etwas ändert.
Auf russische Hoffnungen auf die Abwahl von Kanzlerin Angela Merkel sagte er:
„Das Problem in den deutsch-russischen Beziehungen ist eben nicht Frau Merkel, sondern große Teile der deutschen Eliten, die sich mit Russland völlig entfremdet haben.“
Selbst wenn Merkel gehen müsse und die SPD im September gewinne, werde die CDU Teil einer Koalition bleiben und es werde dieselbe Politik fortgesetzt „wie jetzt“.
Warnung vor zweitem Kaltem Krieg, der nicht friedlich endet
Rahr hält den Ansatz der alten Ostpolitik weiter für notwendig und aktuell:
„Ein Europa ohne oder gegen Russland kann es nicht geben.“
Aber diese Ostpolitik „ist tot“ und der Konflikt mit Russland werde stattdessen gegenwärtig „immer schlimmer, stellte er während der Videokonferenz und mit Blick über Deutschland hinaus fest. Die Ereignisse in der Ukraine und Syrien zeigten: „Es kommt einfach nicht zu einer Kompromissbildung, hier wie da.“
Im Interview beschrieb er sein „Gefühl, dass immer mehr Vertreter der Eliten der europäischen Staaten, vor allem der westlichen und der mittelosteuropäischen Staaten, sich eben ein Europa ohne Russland wünschen und herbeisehnen.“ Das wäre für ihn „der neue zweite Kalte Krieg“. „Wer den dann gewinnt, oder ob der so friedlich zu Ende geht wie der erste, das wage ich zu bezweifeln.“
In der Debatte mit seinen Fachkollegen Wladislaw Below und Nikolaj Platoschkin in Moskau sowie Erhard Crome aus Berlin sprach Rahr ebenso über Themen wie das Verhältnis Deutschlands und der EU zu den USA unter Donald Trump sowie den Konflikt mit der EU. Daraus entwickle sich jeweils unterschiedlicher Druck auch auf die deutsche Politik, wobei sich Merkel nun als „Verteidigerin der liberalen Werte im Westen“ fühle. „Ob sie das durchhält gegen Trump, gegen Putin, gegen die Türkei, gegen den Populismus zuhause, weiß ich nicht.“
Tiefe Enttäuschung und alte Angst vor Russland als Motive
Der Berliner Politologe wies auf eine „hochbrisante und historische Frage hin“:
„Es geht darum, ob die Weltpolitik weiterhin in den nächsten Jahren auf einer Wertebasis passieren soll, wie das der Westen sieht und möchte, mit seinen universal-liberalen Werte, die auch andere Länder wie Russland oder China annehmen müssen. Oder werden wir zurückkehren zu dieser alten, im liberalen Westen verpönten Politik der nationalen Interessen, wo die Amerikaner, die Russen, die Türken, die Inder, die Chinesen sagen werden: Wir werden mit der EU nur die Beziehungen eingehen, die unseren Interessen entsprechen und wir können mit diesem Werteansatz, den Frau Merkel verkörpert, in der Außen- und Innenpolitik nichts anfangen.“
Rahr stimmte seinen Fachkollegen aus Moskau zu, dass der Großteil der deutschen Bevölkerung nicht antirussisch und nicht russophob sei. Doch bei den deutschen Eliten gebe es „eine sehr, sehr kritische Haltung gegenüber Russland“, erklärte er im Interview mit Sputnik. „Die hat sich über die Jahre hinweg entwickelt. Die Gründe dafür sind nicht ganz nachvollziehbar. Vielleicht ist das ein Reflex aus dem kalten Krieg.“
Politik und Wirtschaft sowie Teil der bundesdeutschen Gesellschaft würden sich dabei von den Medien in die negative Haltung mit hinein ziehen lassen. Der Politologe vermutete:
„Vielleicht ist es eine tiefe Enttäuschung darüber, vor allem bei den Grünen, dass die Sowjetunion bzw. Russland sich nicht Richtung einer Sozialdemokratie oder einer linken Demokratie entwickelt hat, oder einem Liberalismus, wie man es gehofft hat, sondern Richtung eines Nationalstaates. Und ein russischer Nationalstaat, der macht natürlich vielen Europäern und vielen Deutschen eine gewisse Angst.“
Er halte es für möglich, dass diese Angst sich bereits seit Jahrhunderten zementiert habe.
Würde äußere Bedrohung Europa wieder mit Russland zusammenbringen?
Der Russlandexperte sieht „im Moment nichts Positives“ auf der deutschen Seite, um das Verhältnis zu Russland zu verbessern, wie er in der Videokonferenz sagte. Merkels Satz, dass sie nach Russland nur über Polen fliege, sei „der Schlüsselsatz“ in der aktuellen deutschen Russlandpolitik, die die scharfe antirussische Rhetorik osteuropäischer Staaten angenommen habe. Im Interview erläuterte er:
„Die Konflikte sind nicht wegen der Ukraine-krise entstanden, sondern in den vielen Jahren davor. Es fing alles an mit dem Tschetschenien-Krieg, den Russland und Deutschland völlig unterschiedlich gesehen haben, bis hin zu den Gas-Streitigkeiten zwischen Russland und der Europäischen Union und der Ukraine und vielen, vielen anderen. Die Ukraine-Krise hat das alles, die vielen kleinen Krisen, die es gegeben hat, zu einem kompletten Ausbruch, zu einem richtigen Konflikt gebracht.“
Der Russlandexperte beurteilt die gegenwärtigen Beziehungen zwischen Deutschland bzw. der EU und Russland sehr skeptisch. Das zeigte sich auch an seiner Antwort im Interview auf die Frage, was aktuell dazu beitragen könnte, den befürchteten neuen Kalten Krieg zu verhindern:
„Die Beziehungen werden sich sofort verbessern, sofort, in einer Sekunde, wenn wir spüren, dass wir eine Herausforderung von außerhalb Europas vor uns haben: Eine politische Explosion im Mittleren bzw. Nahen Osten, ein furchtbarer Terrorangriff von der Größe von Nineeleven in Amerika – wo einfach Europäer und Russen verstehen, dass man gegeneinander hier nicht agieren kann, der Konflikt kein Ost-West-Konflikt ist, sondern ein Nord-Süd-Konflikt.“