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Die Lebenserwartung in Deutschland hängt weiter deutlich vom sozialen Status ab. Darauf haben Sozialforscher beim Kongress „Armut und Gesundheit“ 2017 in Berlin hingewiesen. Zu den Ursachen zählen neben der Wohlstandsverteilung schlechtere Beschäftigungsverhältnisse. Es muss „mehr Wut ins System“, um etwas zu verbessern, so ein Sozialpsychologe.
Wie sich Armut und soziale Ungleichheit auf die Gesundheit auswirken, das machte ein Vertreter des Berliner Robert-Koch-Institutes (RKI) auf dem zweitätigen Kongress (16. und 17. März) deutlich: „Männer und Frauen mit einem Einkommen unterhalb der Armutsrisikogrenze haben im Vergleich zu den hohen Einkommensbeziehern eine um 11 bzw. 8 Jahre geringe mittlere Lebenserwartung bei Geburt.“ Arme Menschen hätten ein zwei- bis dreifach höheres Risiko für Herzinfarkt oder Schlaganfall und für chronische Krankheiten wie Diabetes, ebenso für psychische Erkrankungen, erklärte RKI-Mitarbeiter Thomas Lampert zu Kongressbeginn. Die Forscher verzeichneten auch, dass sozial benachteiligte im Alter in der „Alltagsgestaltung beeinträchtigt“ seien und weniger soziale Kontakte hätten.
Die erwähnte Armutsgrenze wird derzeit mit 942 Euro monatlich für einen Ein-Personen-Haushalt und für eine Familie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern mit 1978 Euro angegeben. Lampert betonte, „dass sich keine Anhaltspunkte dafür finden, dass sich die sozialen Unterschiede in der Gesundheit und Lebenserwartung verringert haben könnten.“ Er fügte hinzu: „Im Gegenteil muss in einigen Bereichen von einer Ausweitung der Unterschiede ausgegangen werden.“
Arbeitsbedingungen und unsichere Jobs verringern Lebenserwartung
Lampert zählte zu den Ursachen dafür, dass Reiche länger leben als Arme, unter anderem die Wohlstandsverteilung und die Unterschiede im Lebensstandard sowie die soziale Absicherung und die Lebensverhältnisse. „Eine wichtige Rolle spielen daneben die schlechteren Arbeitsbedingungen und die höheren körperlichen wie psychosozialen Belastungen der niedrigen Statusgruppen, die auch im Zusammenhang mit aktuellen Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt, z. B. der Zunahme atypischer Beschäftigungsverhältnisse, zu sehen sind.“ Aber auch das Gesundheitsverhalten der Betroffenen gehöre dazu, ebenso die Ernährung oder ob Angebote von Prävention und Gesundheitsförderung genutzt würden.
Die Lebensverhältnisse in Deutschland seien weiter auseinander gedriftet, erklärte Lampert im Interview, warum die Unterschiede zugenommen haben. Inzwischen sei ein Siebtel der Bevölkerung von Armut bedroht, „sogar jedes fünfte Kind ist von Armut bedroht.“ Diese große Ungleichheit spiegle sich in der Gesundheit und Lebenserwartung wieder. Das geschehe „trotz wachsender Wirtschaft“, stellte zu Kongressbeginn Rosenbrock, Vorsitzender des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, fest. Die Armut habe den höchsten Stand seit der Wiedervereinigung erreicht. Darauf hat der Verband unlängst mit seinem aktuellen Armutsbericht aufmerksam gemacht.
Für den Rosenbrock, Experte für Gesundheitspolitik, ist klar, dass die soziale Lage darüber entscheide, ob zum Beispiel das deutsche Präventionsgesetz helfen könne, die gesundheitliche Situation sozial Benachteiligter zu verbessern. „Wie der international renommierte Sozialepidemiologe Richard Wilkinson auch auf diesem Kongress betont, ist nicht nur die individuelle Position auf der sozialen Stufenleiter für die Gesundheitschancen entscheidend, sondern auch die Länge dieser Leiter, also die Einkommensspreizung.“ Um die bestehende Ungleichheit zu vermindern seien „vor allem Konzepte der relativen (und nicht nur der absoluten) Armut zielführend und erforderlich“.
Veränderungen brauchen andere politische Machtverhältnisse
„Es gibt eine Sehnsucht nach Gerechtigkeit“, stellte der Sozialpsychologe Thomas Altgeld in der Abschlussveranstaltung des Kongresses fest. Gerechtigkeitsfragen seien in Deutschland lange nicht diskutiert worden. Es müssten endlich Grundsatzfragen gestellt werden, wenn es um die gesundheitlichen Folgen von Armut geht, forderte der Psychologe: „Wie viel muss wann umverteilt werden? Welche Leistungen müssen anders organisiert werden? Was in diesem Land muss anders werden?“
Die Antworten könnten schnell gegeben werden, aber sie umzusetzen dürfte nicht so einfach werden. Darauf machte unter anderem Almuth Hartwig-Tiedt, Staatssekretärin im Arbeits- und Sozialministerium des Landes Brandenburg, in der Veranstaltung aufmerksam. Lösungen zu finden habe „auch immer was mit Interessen und Machtverhältnissen zu tun“, sagte die Politikerin nicht ganz überraschend, kommt sie doch aus der Partei Die Linke. Es sei auch eine Frage von Umverteilung: So müsse das öffentliche Gesundheitssystem durch mehr Geld gestärkt werden, „denn das ist die Basis, um tatsächlich Chancengleichheit an vielen Stellen hinzubekommen“. Für Veränderungen „brauche ich natürlich ein anderes Machtverhältnis im Bundestag und eine andere Steuerpolitik und eine andere Finanzpolitik“, so die Politikerin. Sie kritisierte die Prioritäten in der politischen Debatte: „Wir reden über Polizisten, wir reden über Sicherheit. … Wer redet denn über das Thema Gesundheit? Wer redet denn über das Thema Armut?“
„Es fehlen Wut und Energie, um etwas zu verändern“
Zum Kongress „Armut und Gesundheit“ am 16. und 17. März in Berlin war bereits zum 22. Mal eingeladen worden. Rund 2.500 Fachleute, Interessierte und Vertreter von Sozialorganisationen beteiligten sich in diesem Jahr an den 121 Workshops zu den verschiedenen Aspekten des Kongressthemas. Doch nicht nur der Psychologe Altgeld zeigte sich bei der Abschlussveranstaltung unzufrieden, dass immer noch viel diskutiert wird, aber sich nichts verändert, wie er auf Nachfrage betonte.
Das war auch spürbar an den Reaktionen aus dem Publikum, wenn zum Beispiel Altgeld oder die Staatssekretärin Hartwig-Tiedt politische Veränderungen anmahnten. Da wurden nicht nur ein Ende des Zwei-Klassen-Gesundheitssystems und „eine Krankenkasse für alle“ gefordert. Immer wieder wurde der Umgang mit Bedürftigen beklagt und auch die gesetzlichen Krankenkassen kritisiert, dass sie sich nur um die Gesunden bemühten. Als Altgeld feststellte, „es fehlt so ein bisschen die Wut und es fehlt die Energie“, sich für Veränderungen einzusetzen, erhielt er deutlichen Beifall. Er warnte die Teilnehmenden davor, immer nur „in der eignen Soße“ zu schwimmen, und forderte sie auf, „nach außen zu gehen“. „Es liegt ein Skandal vor, was wir hier diskutieren – aber das kommt in der Öffentlichkeit gar nicht mehr an.“ Der Psychologe forderte, „mehr Wut ins System zu bringen“, um der Politik klarzumachen, dass sich etwas ändern muss – und erhielt auch dafür deutlichen Beifall. Informationen zum Kongress „Armut und Gesundheit 2017“ online: http://www.armut-und-gesundheit.de/Programm.2006.0.html