„Zum ersten Mal finden sich die Europäer, allen voran die Deutschen, inmitten eines Sturms wieder, für den sie mitverantwortlich sind – weil sich ihre Politiker die Sicht Washingtons zu eigen gemacht haben: Assad muss weg.“ Das schreibt der Islamwissenschaftler Michael Lüders im März-Heft der Zeitschrift Blätter für deutsche und internationale Politik.
Seitdem die syrische Armee gemeinsam mit ihren Verbündeten Aleppo im Dezember 2016 befreit hat, scheint das westliche Medieninteresse an Syrien abzuebben. Daran und wie über den Krieg gegen den IS in Mossul berichtet wird zeigt sich ein weiteres Mal, wie im Westen mit zweierlei Maß gemessen wird. Lüders kritisiert das deutlich in seinem Text über „die blinden Flecken des Westens“.
Leider lässt der Autor selbst weg, dass es diesen Krieg ohne die westliche Einmischung seit 2011 nicht gegeben hätte. Zudem ist seine Sicht selbst vorgeprägt: So schreibt er von angeblich offenkundigen „Verbrechen Assads“ und wirft der russischen Unterstützung für Damaskus vor, auch für Tod und Zerstörung in Syrien verantwortlich zu sein. Dennoch ist sein Beitrag bemerkenswert, weil er die Politik und Medien des Westens deutlich als einseitig kritisiert. Bilder von Opfern des Krieges wie des Jungen Omran aus Aleppo seien wegen ihrer emotionalen Wucht gezielt benutzt worden, um die syrische Armee für ihr Vorgehen anzuklagen. „Der andere Teil wird selten beleuchtet, wenn überhaupt“, stellt Lüders fest.
„Dass die militärisch relevanten Gegner Assads fast ausschließlich aus Dschihadisten bestehen, ist zumindest in politischen Kreisen durchaus bekannt, stellt aber offenbar kein Problem dar.“
Mediale Inszenierung
Blätter-Autor Lüders kritisiert die aktuelle „westliche Rahmenerzählung“, welche die Akteure nur in „gut“ und „böse“ einteile. Das bezieht er ebenso die „hiesige Selbstwahrnehmung, in diesem Konflikt auf der ‚richtigen‘ Seite zu stehen“. Leider wirft er die am Konflikt beteiligten Staaten alle in einen geopolitischen Topf und macht keine Unterschiede, was die konkreten Interessen angeht. Dass Russland zum Beispiel erst im Herbst 2015 militärisch auf Seiten von Damaskus eingriff, nachdem alle vorherigen Friedensversuche, auch die von Moskau, blockiert wurden, erwähnt der in deutschen Medien gern gefragte „Nahost-Experte“ nicht.
Er wirft der deutschen und europäischen Politik immerhin vor:
„Anstatt selbstbewusst eigene Positionen zu vertreten, ziehen es hiesige Entscheidungsträger viel zu oft vor, amerikanischen Vorstellungen zu folgen.“
Das geschehe, obwohl die US-Politik „eine Katastrophe nach der anderen hervorruft, namentlich Staatszerfall, das Erstarken von dschihadistischen Milizen wie dem ‚Islamischen Staat‘ und die Odyssee von Millionen Syrern, Irakern, Afghanen“. Und: „Überspitzt gesagt kehren die Europäer mit der Flüchtlingskrise die Scherben einer verfehlten US-Interventionspolitik auf, bezahlen sie gutwillig den Preis für die Machtansprüche anderer.“
Die „Schlacht um Aleppo“ habe gezeigt, „wie sehr Kriege medial inszeniert werden“, schreibt Lüders. In den westlichen Medien sei der Kampf um die syrische Stadt als deren „Untergang wie einst Dresden“ dargestellt worden. Dabei habe der Fokus „menschliche Tragödie“ die politische Analyse ersetzt. „Andernfalls stünde für jeden denkenden Menschen die Frage im Raum: Wie kann es eigentlich sein, dass die USA mit Al Qaida gemeinsame Sache machen und kein Leitartikler, kein Minister steht auf und sagt: Nicht mit uns, Freunde?“
Ausgeblendete Opfer
Der Islamwissenschaftler blickt in seinem Blätter-Beitrag über Syrien hinaus und fragt: „In Aleppo das Inferno, in Mossul der Freiheitskampf?“ „Unmittelbar nach der Rückeroberung haben die Medien ihr Interesse an Aleppo fast vollständig verloren.“ Der Krieg gegen den islamischen Staat (IS) in Mossul sei seit Oktober 2016 der neue Schwerpunkt nahöstlicher Berichterstattung. „Die unterschiedliche Intonierung der Berichterstattung ist kaum zu übersehen“, stellt der Experte fest, obwohl es in der irakischen Stadt viele Tote geben werde und sie am Ende „größtenteils zerstört“ sein könnte.
Die Frage nach dem Warum der Unterschiede in den Medien beantwortet der Experte so: „Wenn es gelingt, Mossul vom IS zu befreien, wirkt sich das, im Gegensatz zur Aleppo-Episode, positiv auf das Image des Westens aus.“ Zivile Opfer dieses Krieges würden kaum gezeigt, anders als im syrischen Fall.
„Zivilisten sterben in beiden Städten – in Aleppo dient ihr Tod der Anklage, in Mossul wird er ‚eingepreist‘ als notwendiges Übel. Entsprechend sehen wir jubelnde Menschen aus den vom IS befreiten Dörfern rund um Mossul, siegreich vorrückende irakische Soldaten, tanzende Christen, die in ihre Häuser zurückgekehrt sind.“
Lüders bemerkt immerhin, dass die syrische Führung um Bashar al-Assad sich „gegen eine internationale Allianz, die völkerrechtswidrig seinen Sturz betreibt“, verteidigt. Er hat Recht, wenn er meint, dass die Kriege in Syrien und im Irak „eng miteinander verbunden sind“. Es gebe sie nicht ohne die westliche Politik, allen voran die der USA, nicht. Sie sind eine Folge der fortgesetzten westlichen „Politik des regime change … die in den letzten Jahren auch im Irak, in Libyen und, verdeckt, im Jemen betrieben wurde und wird“, wie der Wissenschaftler selbst schreibt.
Seine Meinung, dass diese Kriege im Irak und in Syrien nicht enden würden, verdient Widerspruch. Ebenso wenn er behauptet, am Kriegsende wie am Sieg über den IS „hat übrigens in letzter Konsequenz niemand ein wirkliches Interesse“. Für alle Interventionsmächte sei es „der willkommene Anlass“, im Nahen Osten weiter präsent zu sein und die eigenen Interessen durchzusetzen. Diese Sicht zeugt leider von den eigenen „blinden Flecken“ des Autors.
Michael Lüders veröffentlicht in Kürze ein neues Buch im Verlag C.H.Beck: „Die den Sturm ernten. Wie der Westen Syrien ins Chaos stürzte“