„Reform“ bedroht Gesundheit

Studie der Hans-Böckler-Stiftung zu Problemen und Folgen der Streichung von Krankenkassenleistungen

Vor den Folgen des Abbaus von Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) warnten Ökonomen am Mittwoch in Berlin. Sie hatten im Auftrag der DGB-eigenen Hans-Böckler-Stiftung Probleme und Wirkungen des neuen GKV-Leistungskatalogs untersucht und stellten eine zweiteilige Studie dazu vor. Die langfristigen Folgen und Kosten werden bei dem Abbau im Zuge der sogenannten Gesundheitsreform nicht beachtet, kritisierte Axel Olaf Kern von der Universität Augsburg. Der Leistungsabbau mit dem verkündeten Ziel, zu sparen und den Beitragssatz zu stabilisieren, führe zu »gesundheitlich und sozialpolitisch unerwünschten Folgewirkungen«, heißt es in der Studie. Vor allem die Gesundheit sozial schwacher Schichten sei bedroht, so der Wissenschaftler.

Die sogenannte Gesundheitsreform der Bundesregierung bedeutet seit diesem Jahr mehr Zuzahlungen, Sonderbeiträge und Leistungskürzungen. Neben der Praxisgebühr ist nun wesentlich mehr für Medikamente und Krankenhausaufenthalte zu zahlen. Ab nächstem Jahr wird der Zahnersatz nicht mehr von den Krankenkassen übernommen und muß privat versichert werden. Die sogenannten versicherungsfremden Leistungen wie Mutterschaftsgeld, Kinderkrankengeld oder Verhütung für junge Frauen sollen steuerfinanziert werden, während Entbindungs- und Sterbegeld wegfielen ebenso wie etwa der Zuschuß zu Sehhilfen. Angeblich soll das alles zum Wohl der Patienten geschehen, wie Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) behauptet. Das System der GKV solle so bezahlbar bleiben – für die Unternehmer wohlgemerkt. Die werden ab 2006 ausdrücklich von ihrem Anteil zur Finanzierung des Krankengeldes »entlastet«. Die Versicherten haben dafür einen Sonderbeitrag in Höhe von 0,5 Prozent zu leisten.

Wissenschaftler Kern machte am Beispiel des Zahnersatzes auf die Folgen des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes aufmerksam. Anhand von Untersuchungen aus den USA verwies er auf den Zusammenhang zwischen dem Zustand des Gebisses und dem allgemeinen Gesundheitszustand. Eine schlechte zahnärztliche Versorgung führe nachweislich zu einer schlechteren Gesundheit bei den Betroffenen. So entstünden Folgekosten, die vom GKV-System zu tragen wären und die erhofften Einspareffekte nicht eintreten ließen.

Kern verwies auf die verschiedenen Faktoren, welche den Gesundheitszustand beeinflussen. Das reiche von der sozialen und der Einkommensstruktur über die Umweltbelastung bis hin zum Niveau der Gesundheitsleistungen. Der Wissenschaftler kritisiert in der Studie, daß die Folgen von Leistungskürzungen und -streichungen bei der Krankenversicherung »nie tatsächlich untersucht oder auch nur detailliert diskutiert« worden sind. Die angestrebten kurzfristigen Einspareffekte würden »zwangsläufig mit erheblichen und unerwünschten Belastungen für die Versicherten einhergehen«.

Die Studie macht erneut darauf aufmerksam, daß die Finanzierungsprobleme der GKV »nicht ausschließlich … Folge zu hoher Gesundheitsausgaben« sind. Sie entstünden »zu einem wesentlichen Teil durch eine verringerte Einnahmenbasis« wegen steigender Arbeitslosigkeit und der wachsenden Zahl von Rentnern. Kern kritisiert mit den anderen Autoren den Leistungsabbau im Bereich von Früherkennung und Vorsorge.

Die Wissenschaftler fordern, Nutzen und Wirtschaftlichkeit einzelner Leistungen zu überprüfen, was bisher nicht geschehen sei. Die Wirkung der »Reform« auf die Einkommenslage müsse untersucht werden. Zugleich müßten die privaten Versicherungsangebote für alle vorhanden und bezahlbar sein. Ebenso sollten bisher fehlende gesellschaftliche Ziele für die GKV und das Gesundheitssystem definiert werden. Leistungskürzungen oder -abbau dürften nicht die Qualität des Gesamtsystems bedrohen. Entscheidungsprozesse und Informationen sollten für die Betroffenen endlich transparent und nachvollziehbar sein.

erschienen am 26. Februar 2004 in der „jungen Welt“