Neue Studien beschreiben die Stimmung von Jugendlichen in Ostdeutschland
Die wichtigste Erfahrung war für mich, das Gefühl von Existenzängsten kennen zu lernen.“ Eine junge Frau aus Sachsen beschreibt so, was sich für sie seit 1989 geändert hat. „Der Übergang ist mir sehr gut gelungen“, meint eine andere und fügt hinzu: „Ich habe Angst vor der Zukunft, dass ich meine Arbeitsstelle verliere und nirgends Arbeit finde.“ Die beiden gehören zur Generation der Ostdeutschen, die in der Wendezeit ihre Schulzeit in der POS, der Politechnischen Oberschule, entsprechend der Mittleren Reife beendeten. Heute Ende zwanzig, wuchsen sie in der DDR auf, waren Pioniere und FDJ-Mitglieder. Sie schienen eine sichere Zukunft vor sich zu haben, mit Ausbildung oder Studium, sicherer Arbeit. Der Weg bis zur Rente schien vorgezeichnet. Doch dann kam es ganz anders.
Die jungen Ostdeutschen gehören zur „Generation der zweifach Enttäuschten“. Diese Diagnose stellt der Jugendforscher Peter Förster in seiner Studie Junge Ostdeutsche im Jahr 12 nach der Vereinigung. Försters Erkundungen und Ergebnisse sind Teil einer „systemübergreifenden Längsschnittstudie zum Mentalitätswandel“ in Sachsen. Begonnen hat er sie 1987, damals noch am Zentralinstitut für Jugendforschung (ZIJ) der DDR in Leipzig. Die Studie sei zwar streng wissenschaftlich nicht repräsentativ, so der Sozialwissenschaftler. Aber mit ihr liege für die Bundesrepublik und wohl auch Osteuropa einmaliges Material vor. Es gebe Auskunft darüber, wie sich der Systemwechsel seit 1989 auf junge Menschen ausgewirkt hat.
Ein Jahrzehnt habe nicht ausgereicht, die Mehrheit der zur Wende 18-Jährigen vom gesellschaftlichen System der Bundesrepublik zu überzeugen. Das benennt Förster als Hauptergebnis seiner Studie. „Nach wie vor befinden sich diese jungen Ostdeutschen in einem intensiven Such- und Wandlungsprozess ihrer politischen Orientierungen und Identifikationen.“ Das bestätigt auch der kürzlich vorgestellte Sozialreport 2002 für Ostdeutschland, der eine „neue Identität der Ostdeutschen“ erkannt haben will.
Zwar macht die neueste Shell-Jugendstudie Karriere als wichtigen Wert für die „pragmatische Generation“ der 12- bis 25-Jährigen aus. Jugendforscher Förster zeigt dagegen, dass unter den kaum Älteren in Ostdeutschland immer weniger „zur Elite der jetzigen Gesellschaft gehören wollen“. „Mit der abnehmenden Neigung zu Aufstieg und Prestigegewinn versiegt zugleich eine bedeutende Quelle der Identifikation mit den Werten und Normen der jetzigen Gesellschaft.“
Die ostdeutschen Endzwanziger werden von Förster jedoch nicht als „ostalgisch“ beschrieben. Die überwiegende Mehrheit von ihnen habe die Veränderungen seit 1989 begrüßt. „Ich bin froh, dass wir uns in einem politischen Umbruch befinden. Denn wie bisher hatte es nicht weitergehen können.“ So antwortete 1990 einer der von Förster Befragten. Die deutsche Einheit werde als Selbstverständlichkeit nicht in Frage gestellt. Auch laut Sozialreport 2002 sehen die Ostdeutschen die Einheit überwiegend als Gewinn. Nur eine Minderheit wünsche die politischen Verhältnisse der DDR zurück, schreibt Förster.
Dennoch kam der Jugendforscher zu einem paradoxen Ergebnis: Die jungen Ostdeutschen seien „schon Bundesbürger, aber noch immer DDR-Bürger“. Demzufolge fühlt sich erst jeder und jede fünfte Ostdeutsche bereits als richtiger Bundesbürger. „Das Zugehörigkeitsgefühl zur DDR ist offensichtlich tiefer verwurzelt, als bisher angenommen wurde.“ Erst ein kleiner Teil der ostdeutschen Endzwanziger sei im vereinten Deutschland angekommen. Das politische System der DDR lehnten sie zwar fast vollständig ab. Dem System der vereinten Bundesrepublik stünden „die meisten jedoch noch immer skeptisch oder kritisch gegenüber“, erklärt Förster. Nur eine Minderheit von neun Prozent fühle sich im Jahr 2002 politisch eng mit der Bundesrepublik verbunden. Ein Anteil, der unter jungen Frauen noch geringer ist (vier Prozent) als unter den männlichen Ostdeutschen (14 Prozent).
Förster sieht die Ursache der von ihm beschriebenen Erscheinung in den heutigen Alltagserfahrungen der ostdeutschen Endzwanziger. Seit 1990 haben etwa drei Viertel von ihnen direkt oder indirekt Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit gemacht. Im Kontrast dazu wird offenbar die Erinnerung an eine meist sorgenfreie Kindheit in sozialer Sicherheit vielfach aufgewertet. Und so schneiden im Systemvergleich die sozialen Verhältnisse der DDR in der Studie noch immer gut ab. Diese Erinnerungen der ostdeutschen Endzwanziger an die Zeit vor 1989 seien aber nicht ideologisch geprägt, so Förster.
Die jungen Ostdeutschen hatten zwar 1989 Hoffnungen auf Veränderungen und die DDR satt. Doch seien sie „innerhalb kurzer Zeit erneut von der Gesellschaft, in der sie leben, enttäuscht“. Das zeigt sich dem Jugendforscher zufolge in weiterhin abnehmender Zufriedenheit mit dem politischen System und der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik. Deren Gesellschaftssystem werde nur wenig Zukunftsfähigkeit zugetraut. „Früher hatte ich eine sichere Zukunft, jetzt nicht mehr,“ sagt eine junge Frau. Zwei Jahre zuvor hieß es in der Shell-Studie noch, die jungen Ostdeutschen hätten eine größere Zukunftszuversicht als ihre Altersgenossen in Westdeutschland. Dieser Trend sei gestoppt, meint Förster.
Bei Förster und im Sozialreport ist zu lesen, dass immer weniger Ostdeutsche zufrieden mit ihren eigenen politischen Einflussmöglichkeiten sind. Der Shell-Studie zufolge sind 52 Prozent der jugendlichen Ostdeutschen zur demokratischen Praxis in der Bundesrepublik kritisch eingestellt. Wie bei Förster wird das als „Kritik an den Lebensverhältnissen sowie als persönliche Reaktion auf fehlende Chancen in Beruf und Gesellschaft“ gedeutet.
Angesichts der Massenarbeitslosigkeit auf dem Gebiet der ehemaligen DDR sieht der Jugendforscher die Entwicklung eines ostdeutschen Bewusstseins skeptisch. Ob die „zu DDR-Zeiten verinnerlichten Werte“ wieder stärker wirken, hänge von der künftigen wirtschaftlichen und sozialen Lage in Ostdeutschland ab. Auch der Sozialreport 2002 für Ostdeutschland warnt vor der Gefahr, dass sich politische Einstellungen und Haltungen der Resignation und Zurückhaltung gegenüber der Demokratie dauerhaft verfestigen.
Die Generation der ostdeutschen Endzwanziger hat offensichtlich ihre Erwartungen auf eine „wirkliche Einheit“ immer weiter in die Zukunft verlagert. 1990 meinten sie, das vor der Jahrtausendwende erleben zu können. Sie glauben heute, dass es noch 20 Jahre dauert, bis „zusammen wächst, was zusammen gehört“.
Peter Förster: Junge Ostdeutsche im Jahr 12 nach der Vereinigung: Die Generation der zweifach Enttäuschten Leipzig 2002 (zu beziehen über die Rosa-Luxemburg-Stiftung)
Peter Förster: Junge Ostdeutsche auf der Suche nach der Freiheit. Eine systemübergreifende Längsschnittstudie zum politischen Mentalitätswandel vor und nach der Wende, Opladen 2002; 357 Seiten; 35 Euro
Gunnar Winkler (Hg.): Sozialreport 2002. Daten und Fakten zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern, Berlin 2002; 212 Seiten; 18,80 Euro Jugend 2002. 14. Shell Jugendstudie, Frankfurt/Main 2002; 480 Seiten; 12,90 Euro
veröffentlicht in „Freitag“ 41/2002 am 4.10.2002